Sonntag, 11. November 2012

graue Wolkengedanken

Die Tage vergehen und fließen ineinander über, genau wie meine Gedanken. Nicht greifbar, sind irgendwo zwischen Himmel und Erde in den Wolken hängen geblieben. Zäh fließen die Stunden der Nacht dahin, kriechen wie schwarze Schatten über den Boden, lauern überall in der Dunkelheit. Einsamkeit. Angst. Kälte. 
Verloren.
Alles erscheint mir unwirklich, alles wirkt zugleich so fremd und schon einmal gelebt. In diesem Haus lauern die Geister der Vergangenheit überall, die Erinnerungen, die irgendwo in meinem Hinterkopf herumspuken, und die ich einfach nur vergessen will. Ich wohne hier zusammen mit Menschen, die eigentlich keine Fremden für mich sein sollten. Ich bin da und nicht da zugleich. Ich bin wie Nebel. Man kann ihn zwar sehen, aber wirklich existieren tut er nicht, denn man spürt ihn nicht, man nimmt ihn nicht wirklich wahr, nur am Rande des Bewusstseins.
Ich quäle mich durch die Tage. Versuche aufzustehen, wenn der Wecker klingelt. Versuche halbwegs pünktlich zu sein, versuche nicht mehr so viel Unterricht zu schwänzen. Versuche so zu tun, als würde es mir gut gehen. Ich bin eine Meisterin der Masken, lache und tue so, als wäre das alles ganz normal, als würde ich mich normal fühlen und nicht absolut fremd in dieser Schule, diesem Haus, dieser Welt und diesem Körper. Für die anderen bin ich jemand, die ich eigentlich gar nicht bin. 
Doch wer oder was ich wirklich bin, weis ich nicht. Jedes Mal würde ich das Mädchen im Spiegel am liebsten fragen: "Wer bist du?", denn es ist mir so fremd. 
Einzig der Blick des Spiegelmädchens ist mir vertraut. Gehetzt und unruhig, unsicher und verzweifelt. Es ist diese innere Unruhe, die mich zur Zeit antreibt. Diese Unruhe, die mich nicht still bleiben lässt, sondern mich trotz eisiger Kälte und Husten hinaus in die Dunkelheit der Nacht treibt.
In diesen Tagen fühle ich gar nichts. Spüre nur eisige Kälte. Kälte auf meiner Haut und Kälte in mir drin. Ich habe das Gefühl, nichts mehr zu wissen, langsam immer weiter verloren zu gehen, mich immer weiter selbst zu verlieren. Mein Leben verschwimmt in einem Meer von Bedeutungslosigkeit. Aufstehen und im Unterricht sitzen ist sinnlos. Warum tue ich es also? Weil zuhause sitzen genauso sinnlos ist. Auch nie mehr aufstehen ist sinnlos. In dunklen Gräbern ist es finster und kalt. Weder im Leben noch im Tod wartet irgendwo eine Antwort. Denn nach Antworten zu suchen, die es nicht gibt, ist ebenfalls sinnlos. Und doch ist das eines der Dinge, die den Menschen irgendwie im Blut liegen, eins der Dinge, die man nicht aufgeben kann, die man niemals aufhören kann, auch wenn einen der eigene Verstand zum tausendsten Mal daran erinnert, dass man sich nur wieder an den Scherben des eigenen Lebens schneiden wird.
An manchen Tagen fühle ich mich absolut leblos, tot. Wie eine Puppe oder eine Maschine laufe ich durch die Welt, durch meinen Tag. Ich funktioniere. Ich führe Gespräche, an die ich mich schon kurz danach nicht mehr erinnern kann, ich höre scheinbar dem Unterricht zu, doch die Worte kommen nicht einmal bei mir an. In mir herrscht Stille. Nur meine eigenen Gedanken füllen diese Stille aus und kreisen unaufhörlich durch meinen Kopf. 
Wenn ich einen Raum verlasse, ist es als hätte ich mein Gehirn irgendwo auf dem Tisch vergessen, denn meine Gedanken verselbstständigen sich, denken sich selbst weiter, während ich irgendwo bin, irgendwo stehe und gehe und das nicht einmal bewusst wahrnehme. Es ist, als müsste ich das Gehirn, und all die vielen Gedanken mühsam wieder einfangen, sie irgendwie dazu bringen zu mir zurückzukommen. Als müsste ich die Gedanken aus den Wolken fangen, weil sie sich hoffnungslos darin verfangen haben.
Es ist Herbst, und die Welt ist grau. Als wären mit den fallenden, bunten Blättern auch alle Farben verloren gegangen, weil die Menschen mit ihren Schuhen achtlos darauf getreten sind, und all die Farben vom Regen davongespült wurden...Meine Welt ist grau. Ich weis nicht, woher diese innere Unruhe kommt, die mich antreibt. Doch sie hält mich davon ab, mich hinzulegen und nie wieder aufzustehen. Denn ich bin müde. Körperlich müde und müde vom Leben.

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