Mondwanderin
Ich stand am Fenster, in Mondlicht
getaucht, das sich durch das Glas in meinen Raum ergoss. Meine Augen waren
durch die Scheibe hinaus in die Nacht gerichtet. Für mich fühlt es sich so an,
als könnte ich erst frei atmen, wenn der dunkle Schleier das Firmament bedeckt
und das Sternenzelt am Himmel sichtbar ist. Für Wesen der Dunkelheit ist das
Licht der Sonne zu hell, der Himmel zu blau und von zu viel schmerzhafter
Fröhlichkeit erfüllt.
Nasse Tränenspuren zogen sich über meine
Wangen, aber ich wischte sie nicht weg. Wozu auch? Schließlich sah mich hier
niemand weinen, nur der Mond und die Dunkelheit der Nacht. Und wenn meine
Tränen wirklich von jemandem verstanden werden, dann von der Dunkelheit statt
von hellem Sonnenlicht.
Meine Haut ist so kalt, wie das
Fensterglas, als ich es mit der Handfläche berühre und mich vorbeuge, um
genauer in die Nacht hinaus schauen zu können, denn ich glaubte etwas gesehen
zu haben. Ein helles Licht zwischen den Sternen, ungewohnt hell für diese weit
fortgeschrittene Stunde.
Ist das eine Sternschnuppe? fragte ich
mich. Noch nie hatte ich eine gesehen, doch wenn man eine Sternschnuppe sieht,
hat man einen Wunsch frei. Schnell dachte ich nach, um meinen Wunsch irgendwie
in Worte zu fassen, obwohl ich eigentlich wusste, dass das Unsinn ist. Diese Welt
ist kein Märchenland, Wünsche gehen nicht in Erfüllung.
Doch ich bemerkte schnell, dass es sich
bei dem hellen Leuchten, das mit seinen dünnen Streifen Licht die Dunkelheit
der Nacht in zwei Teile schnitt, nicht um eine Sternschnuppe handeln konnte.
Denn das Licht kam näher.
Eigentlich hätte ich verwundert und überrascht sein müssen, doch ich fühlte gar
nichts, stand einfach nur da und sah zu, wie der Lichtstrahl sich auf mein
Fenster zubewegte und direkt am Fensterbrett anhielt, wie eine Straße oder ein
Regenbogen aus Licht, die man betreten konnte.
Lautlos und wie von Geisterhand schwang
mein Fenster auf und ich stand im kalten Wind.
Ein heftiges Zittern lief durch meinen Körper, da ich nur ein dünnes
Nachtkleid ohne Ärmel trug. Mein Mund
öffnete sich vor Staunen, als sich auf dem Lichtstrahl eine Gestalt
materialisierte, wie kleine Lichtpunkte die sich aus dem Nichts plötzlich zu
einer Gestalt zusammenfügten. Was da vor mir stand, war ganz offensichtlich
kein Mensch, auch wenn es den Körper einer Menschenfrau besaß, schlank und
groß, schwarzes Haar wie fließendes Wasser über ihre Schultern fallend, und ein
freundliches Lächeln in ihrem schönen Gesicht. Mit einer samtig weichen Stimme
begann sie zu sprechen:
„Die Nacht zum Gruße, Menschenkind…Ich
bin erschienen, da das, was du hast, kein vollständiges Leben mehr ist…da
alles, was dir geblieben ist, ein kaputtes Herz voller Träume ist…Komm mit mir,
und ich gebe dir eine Welt…“
Mit einem freundlichen Lächeln streckte
sie mir ihre Hand entgegen. Immer noch stand tiefes Erstaunen in meinen großen
Augen, doch ich zögerte nicht, legte meine kleine, kalte Hand in die ihre und
sie umschloss sie mit ihren warmen Fingern und zog mich zu sich hoch, auf das
Fensterbrett und hinaus auf den Lichtstrahl, zog mich mit sich, fort von
meinem Fenster und hinauf in den weiten Himmel, auf eine leuchtenden Brücke, die
sich endlos erstreckte und ich nicht sehen konnte, wohin sie mich führen würde...
[Fortsetzung folgt]